Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges verfügte die Deutsche Luftwaffe über 400.000 Mann und eine Flugzeugstärke von 4.000 Maschinen. Diese eindrucksvolle Streitmacht der Luft, innerhalb weniger Jahre aus dem Nichts aufgebaut, stellte nicht nur eine veritable Leistung dar, sondern ist auch jener Wehrmachtsteil, mit dem die großen Eroberungen an allen Fronten („Blitzsiege“) erst möglich gemacht wurden. Die Luftwaffe hatte erheblichen Einfluss auf das weitere Kriegsgeschehen; im weiteren Kriegsverlauf und zahlenmäßig weit überlegenen Feindkräften konnte die Deutsche Luftwaffe aber nicht mehr an ihre Anfangserfolge anknüpfen. Die mangelhafte Versorgung der Truppen in Stalingrad 1942/43 aus der Luft ist nur ein Beispiel dafür. Hinzu kamen administrative Kompetenzstreitigkeiten aus der Führung in Bezug auf die strategische Ausrichtung der Luftwaffe und zunehmender Personal- und Treibstoffmangel, so dass auch die technischen Leistungen wie zum Beispiel der Me 163, ME 262 und Heinkel HE 162 als ersten Turbinen-Flugzeuge den eigentlichen Zusammenbruch nicht verhindern konnten.
Jedes Land braucht seine Helden – Glorifizierung und Personenkult
Schon im Ersten Weltkrieg erkannte man die strategische Rolle und taktischen Einsatzmöglichkeiten dieser neuen Waffengattung. Untrennbar damit verbunden sind die „großen“ Flieger-Namen wie Boelcke, Immelmann,von Richthofen, Udet und natürlich auch Hermann Göring. Diese Tradition der „großen Helden“ und „Pour le Mérite-Träger“ als Fliegerasse wurde auch im Zweiten Weltkrieg ausgiebig fortgesetzt, um Freund wie Feind Respekt einzuflössen, den überragenden Leistungswillen als auch das meisterhafte Können deutscher Piloten einzuschärfen. Barkhorn, Graf, Galant, Hartmann, Marseille, Mölders, Nowotny, Rall und Rudel – die Liste könnte lange fortgesetzt werden und Dank einer ausgeklügelten und sehr emotionalen Sendung durch alle Kanäle der Propaganda-Medien wurden diese Personen zu modernen Ikonen hochstilisiert, wie „Popstars“ gefeiert und verehrt.
Nun ist nicht jeder dazu auserkoren, ein glorreicher Held seiner Taten zu werden oder zu sein und so sind die vielen Tausende von weiteren Luftwaffen-Angehörige vom Piloten und Helfer, Nachrichtenoffizier bis zur Flak-Mannschaft der Öffentlichkeit weniger bekannt geblieben. Einer dieser vielen „Unbekannten“ ist Heinz Neubauer, Jahrgang 1918 aus Zwickau/Sachsen, der sich in der Deutschen Luftwaffe seit 1939 hochgedient hat, bei der WESTA 76/4 (Wettererkundigungsstaffel) im Kampfgeschwader 76 an der Ostfront im Einsatz war. 1944 wurde er an der Fliegerschule in Wildon und Zeltweg (Österreich) zum Piloten ausgebildet.
Heinz Neubauer ist mein Großvater und ich habe schon als Junge die alten Schwarzweißbilder angeschaut und bestaunt. Es gibt zahlreiche Bilder von ihm und seinen Kameraden, die er vor und während seiner Kriegszeit angefertigt und in die Heimat geschickt hat. Eine Reihe von Papieren und Feldpostbriefen dokumentieren manche Stationen in seinem kurzen Leben, das mit einem „Vermisst“ Anfang 1945 endet. Nicht nur Heinz Neubauer war ein fleissiger Schreiber. Schätzungen sprechen von 30-40 Milliarden Feldpostbriefe, die in sechs Kriegsjahren verschickt wurden, eine ungeheure Zahl! Neben dem Postwesen war auch die Fotografie, die durch die Entwicklung des Kleinbildfilms mit dem Format 35 mm von dem deutschen Fotografen und Feinmechaniker Oskar Barnack besonders populär und erschwinglich für jedermann wurde, ein geradezu essentieller Bestandteil für die Kommunikation zwischen Front und Heimat.
75 Jahre Kriegsende – 75 Jahre Ungewissheit über das Schicksal des Großvaters
Gleichwohl eine ungezählte Anzahl an Büchern, Veröffentlichungen und Unterlagen den Aufstieg und Fall der Deutschen Luftwaffe im Dritten Reich anschaulich und in allen Facetten eindringlich beleuchten, so sehr gibt es nach wie vor erhebliche Wissenslücken in Bezug auf Einzelschicksale und auch Geschehnisse in dieser dramatischen Zeit. Eine unbekannte Anzahl von Akten, Unterlagen und wichtigen Zeit-Dokumente sind entweder verloren gegangen, selbst zerstört oder durch Feindeinwirkung vernichtet worden. Kameraden oder Zeitzeugen sind nach 75 Jahren ebenso nicht mehr zu finden. Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes spricht von immer noch 1,2 Millionen vermissten Deutschen, deren Schicksal immer noch unbekannt ist (Zahl von 2018). Die allermeisten Fälle werden sich wohl auch nicht mit dem größten Detektiv-Spürsinn mehr aufklären lassen, eine nach wie vor schmerzliche Erkenntnis für viele Angehörige. Die Bundesregierung hat zudem bekannt gegeben, diese Arbeit im Jahr 2023 ganz einzustellen.
Kriegsalltag und Arbeit – Bilder für die Heimat
Die überlieferten Bilddokumente von Heinz Neubauer sind insofern interessant, da er das Medium Fotografie eindeutig nutzt, um der Heimat neben den meist „stolzen“ Motiven und „positiven“ Lebenszeichen auch ein durchaus kritisches Bild der Lage zu zeigen. Durch die Qualitäts- und auch Formatunterschiede der Abzüge muss man davon ausgehen, dass der Soldat Heinz Neubauer auch Fotografien mit seinen Kameraden ausgetauscht hat, eine gängige Praxis zu der Zeit. Die meisten Fotografien sind in den Anfangsjahren des Krieges entstanden.
Man bekommt zunächst den Eindruck, als sei das Kriegsgeschehen ein großer „Abenteuer-Urlaub“ für besonders Mutige und Tatendurstige, die sich in ihre neue Umgebung einfinden und ein Stück weit Normalität und Alltag vermitteln. Dann wiederum zeigen die Bilder Kriegsgefangene als auch die wilden Zerstörungen von Städten. Insofern muss das Bewusstsein vorhanden gewesen sein, dass Krieg keine besonders angenehme Sache ist. Die nicht durchgehende Foto-Dokumentation bis zu seinem Tod bleibt leider sehr fragmentarisch, so dass der Betrachter mehr Spekulation als Wahrheit findet. Offen bleiben auch die Fragen nach dem persönlichen, militärischen Dienst bei der WESTA 76/4. War Heinz Neubauer Teil des fliegendes Personals der Junkers-88 Maschinen, beim Bodendienst oder im administrativen Bereich, wie zum Beispiel Einsatzplanung oder Auswertung, beschäftigt? Zudem hat Heinz Neubauer bis 1942 sehr engagiert und durchaus ambitioniert seine Umgebung und seinen Alltag fotografiert. Wieso gibt es keine Aufnahmen von 1943 oder 1944? Oder hat Heinz Neubauer bis zu seinem Tod weiter fotografiert und die Unterlagen wurden bei einer Kampfhandlung zerstört oder beim Lazarettaufenthalt vernichtet?
„Halte mir die Daumen, dass ich recht viel Fliegerglück habe!“
Die Feldpostbriefe und Korrespondenz von Heinz Neubauer fokussieren sich mehr auf Fragen bezüglich der Heimat und des dortigen Wohlergehens, als detailliert auf das eigene Empfinden einzugehen oder gar über das Kriegsgeschehen Auskunft zu geben. Das Bewusstsein für strenge Zensur und auch „Geheimnisverrat“ sind vielleicht auch Gründe, die eigenen Einsätze nicht zur Sprache zu bringen. Vielleicht ist es auch so zu sehen, dass mit dem zunehmenden und enormen Ausmaß der Zerstörung und auch dem eigenen Rückzug und Niederlagen sowie dem tausendfachen Tod und Leid eine immer stärkere Zurückhaltung im persönlichen Informationsbedürfnis als einer Art „psychischen Hygiene“ eintritt. Ein jubelnder Nationalsozialist scheint Heinz Neubauer nicht gewesen zu sein; in den Briefen gibt es keine Hinweise auf die üblichen Sieges- und dann Durchhalteparolen, Fremdenhass oder gar gefahrvolle Situationen, denen er – nicht nur – im Flieger-Alltag mit Sicherheit ausgesetzt war.
In einem Brief vom 02.06.1944 aus der Fliegerschule in Wildon schreibt Heinz Neubauer: „Besten Dank für die Adresse von Walter Schmidt, die haben nun auch schon zwei Söhne so gut wie verloren und der Vater ist auch tot. Da haben die aber im Krieg schon allerhand mitgemacht.“ Im selben Brief: „In circa 14 Tagen fange ich an mit dem Fliegen. Dann werde ich wohl Ende dieses Jahres mit der Ausbildung als Flugzeugführer fertig sein. Gleich als ich hier mit der Eisenbahn ankam, ist der Zug von Feindflugzeugen angegriffen worden, aber daran gewöhnt man sich auch. Leipzig ist vor ein paar Tagen angegriffen worden, hast Du schon etwas erfahren, wo die wieder abgeschmissen haben?“
Feldpostbrief vom 18.07.1944
„… da ich nun bei der Schülerkompanie bin und jetzt mit dem Motorenflugzeug fliege. Wir sind von 4 Uhr morgens bis 21 Uhr abends beim Fliegen bzw. Unterricht und werden geistig und körperlich stark beansprucht, so dass man kaum Zeit zum Schreiben hat.“ Der Brief endet: „Zu Weihnachten werde ich schon zuhause sein, wenn alles gut geht. Halte mir die Daumen, dass ich recht viel Fliegerglück habe.“ Flugzeugführerschule A 123, Schülerkompanie, Wildon bei Graz.
Am 30.09.1944 schreibt Heinz Neubauer: „Liebe Mutter, wir rücken in den nächsten Tag ab zur Front. Schreib mir bitte nicht unter der Adresse, die ich Dir mitgeteilt habe, die ist nämlich geheim und darf nicht veröffentlicht werden. Meine Feldpostnummer werde ich Dir sofort schreiben, wenn wir sie haben. Alles Gute! Dein Heinz“
Das vorletzte niedergeschriebene Lebenszeichen von Neubauer ist vom 02.11.1944: „Ich bin nun bei den Fallschirmjägern im Westen im holländischen Gebiet. Mehr darf ich Dir leider nicht schreiben. Ich bin wieder Hauptfeldwebel und habe eine ganz anständige Kompanie, alles ganz junge Soldaten. Ich glaube kaum, dass es mit Weihnachten Urlaub geben wird, denn bald wird es auch in unserem Abschnitt losgehen.“ Auf dem Brief steht nun LG1 173 D, Lg. Pa. Münster II
Zurück an Absender – Neue Anschrift abwarten!
Der letzte Brief seiner Ehefrau erreicht Heinz Neubauer nicht mehr. Am 27. Januar 1945 wird der Brief an die Hamburger Anschrift zurück geschickt. Das ist das letzte Lebenszeichen von der Front im Westen aus dem Lazarett Utrecht in Holland. Der Krieg wird noch drei schreckliche Monate weitergehen, bis Deutschland im Mai 1945 vor den alliierten Siegermächten kapituliert.
Der militärische Lebenslauf von Heinz Neubauer lässt viele Fragen offen. Bekannte Stationen sind 1939 das 2. Flieger-Ausbildungs-Regiment 12, Standort Pardubitz. Eine weitere Station befindet sich laut Meldung vom 09.04.1941 in Wien, beim Luftkommando 9. Die letzte offizielle Meldung erfolgt im Januar 1945: 7. Kompanie Fallschirmjäger-Regiment 18 (Unterstellung: 6. Fallschirmjäger-Division), Oktober 1944 Meppel, Holland und Januar 1945 Niederrhein (Kleve und Arnheim). Dies sind die einzigen Eintragungen von der Wehrmachtsauskunftstelle für Kriegsverluste und Kriegsgefangene. In den Jahren 1941 und auch 1942 war Heinz Neubauer beim Kampfgeschwader 76 Wettererkundigungsstaffel 4 (WESTA 76/4) an der Ostfront eingesetzt; das beweisen die Fotografien mit den handschriftlich vermerkten Datumsangaben.
Das Fallschirmjäger-Regiment 18 wurde vom hochdekorierten Major Rudolf Witzig geführt, das sich aus Angehörigen der Fliegerausbildungs- und Fliegerersatzregimentern sowie Ersatzmannschaften der Fallschirmjägerschulen zusammensetzte. In der Biografie über den Ritterkreuzträger Witzig finden sich leider keine detailierten Schilderungen dieser deutschen Einheit über die letzten und dramatischen Kriegsmonate an der Westfront. Insofern wird auch das Schicksal von Hauptfeldwebel Heinz Neubauer und die tatsächlichen Umstände seines wahrscheinlichen Todes im Januar 1945 für immer im Dunkeln bleiben, so wie das von vielen Tausenden. Eine Grabstätte gibt es nicht und Heinz Neubauer ist einer von geschätzten 430.000 Toten, die allein die Deutsche Luftwaffe bis zur Kapitulation im Mai 1945 zu beklagen hatte.
Quellen:
Deutsches Historisches Museum
Feldpost Archiv
Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes
Biografie Rudolf Witzig von Franz Kurowski