Ein Wochenende

Irgendwo in Deutschland. Irgendwo im Wald. Dort liegt der alte Flughafen der russischen Streitmächte. Abseits der Kreisstadt. Militär gibt es schon lange nicht mehr. Dafür stehen noch die paar Plattenbauten, in denen die damaligen Militärangehörigen gewohnt haben. Aber auch die sind ja nicht mehr da. Nach dem Abzug der russischen Truppen zogen dann in diese Siedlung Deutsche ein. Das war kurz nach der Wende.

 

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Nun haben die alten, zum Teil baufälligen Häuser eine Vielzahl an neuen Bewohnern. Ein paar Deutsche wohnen auch noch in der „Flughafen-Siedlung“. Ringsherum dichter Wald, ein großes, zerfallenes Freibad, ein Bolzplatz mit Fußballtoren und vereinzelt ein paar zusammengestürzte Häuser, das ehemalige Kulturhaus der Russen. Das war’s dann aber auch schon. Kein Einkaufsmarkt, kein Restaurant, kein Bäcker. Kein Gar Nichts. Die Kneipe „Fliegerhorst“ hat auch schon vor Jahren dicht gemacht. Der Bus fährt alle Stunde in die Stadt. So sieht es hier aus, im Jahr 2016. Wenigstens kommt jetzt der Frühling und es wird wärmer. Dann kann man auch wieder mehr draußen sein.

 

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Ich parke mein Auto und spaziere zwischen den Häusern herum. Wie ein Fremder, ein Eindringling komme ich mir vor. Überall Kinder. Kinder, die Fahrrad fahren, Kinder, die in dem kleinen Sandkasten spielen, Kinder, die schreien und lachen, Kinder, die Verstecken spielen und um die Wette laufen, Kinder mit Puppen auf dem Arm, Kinder, die Puppenwagen schieben. Natürlich komme ich mit den Erwachsenen ins Gespräch. Deswegen bin ich ja hier. Ich möchte erfahren, wie sie hier leben, woher sie kommen, was sie für Pläne haben, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Zunächst lerne ich einen jungen Mann aus Afghanistan kennen. Er spricht ganz gut Englisch und ich frage ihn, wie lange er schon hier in Deutschland ist. Seit knapp vier Monaten. Eine lange Zeit. Ich mache ein Foto von dem jungen, sehr freundlichen Mann. Überhaupt sind alle sehr herzlich und natürlich neugierig. Was sucht denn schon ein Fremder hier, was will der denn? Einem nach dem anderen werde ich vorgestellt. Zuerst ist da eine Gruppe von Afghanen, dann eine Gruppe aus Syrien, dort die Menschen aus Nordafrika, aus Somalia und Eritrea. Und zwischen all den Gruppen auch eine Gruppe aus dem Iran und aus Tschetschenien. Ich stelle mich als Fotograf und Journalist vor und kann meine Aufnahmen machen. Sehr würdevoll, teilweise ernst, schauen sie in mein Objektiv. In der Fremde hält man zusammen, man ist unter sich, natürlich, alleine der Sprache wegen. Alle haben das selbe Schicksal: sie warten auf ihre Papiere und ihre Anträge, die dann darüber entscheiden, wo sie hinkommen oder ob sie Deutschland wieder verlassen müssen.

 

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Die Männer sitzen in Grüppchen zwischen den Häuserblocks auf dem Rasen, sie rauchen, sie trinken Tee, unterhalten sich, hören aus einem kleinen Lautsprecher Musik. Und noch eins, was sie eint: Es gibt nichts Richtiges zutun. Ich sehe erwachsene Männer, die seit einer halben Stunde mit dem Fahrrad auf und ab fahren. Die Frauen sind eher in den Wohnungen. Es ist Mittagszeit und überall duftet es nach orientalischen Speisen. Die Familienväter schauen nach ihren Kindern, fahren zusammen mit dem Rad. Ein paar wenige Frauen schieben ihre Kinderwagen durch den Hinterhof und auf dem Gehweg vorne an der Straße.

 

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„Was machen Sie den ganzen Tag?“ Die Antwort ist unisono: „Nichts!“ Erwachsene Menschen, zum Nichtstun verdonnert. Das zermürbt einen langsam, denke ich. Fast jeder hier in der Siedlung kämpft mit der schlechten Telefonverbindung und Internet. Fast jeder hier hat ein Smartphone. Telefonieren und Whatsapp-Nachrichten austauschen, eine wichtige Tagesbeschäftigung. Der Kontakt zur Heimat, zu Freunden und Familie. Kaum einer spricht Deutsch. Manche Erwachsenen besuchen die Sprachschule. Ist doch auch eine Pflichtveranstaltung. Aber das Resultat ist doch noch ganz schön dürftig, muss ich sagen. zwei, drei Brocken Deutsch, das war’s, das ist alles. Und wie schon gesagt, die wenigstens sprechen Englisch. Ich frage nach, welche Berufe sie in ihrer Heimat hatten. Da ist ein Designer, ein Fahrer, ein Mann, der in einem Dekorationsgeschäft, der andere in einem Restaurant gearbeitet hat, der eine war Gerichtsvollzieher, der andere ein Mechaniker, die eine Frau war Lehrerin, die andere Näherin. Menschen aus allen sozialen Schichten, wie ich feststelle.

 

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Ein deutscher Bewohner der Siedlung, der schon sein halbes Leben hier zugebracht hat, klärt mich auf: „Da ist der eine ältere Mann aus Somalia, der mit „seinen“ Jungs jeden Tag die Runde macht und aufräumt. Jede Zigarettenkippe wird dann aufgesammelt. Das finde ich schon toll! Eigentlich war diese Siedlung schon so gut wie ausgestorben. Die Handvoll Deutsche, die noch hier lebten, in den großen Wohnblöcken. Das war doch nichts mehr.“ Automatisch denke ich, der Grundstücksbesitzer und Wohnungseigentümer macht seinen Reibach des Lebens. Eigentlich als Abrissgelände schon auf den Papieren abgeschrieben erfährt diese Siedlung nun eine Renaissance. Da wird viel Geld fließen und die Stadt ist sicherlich dankbar, dass sie das Gelände als Unterbringungsplatz für Flüchtlinge nutzen kann.

 

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Unter der Woche ist die „Dienststelle“ besetzt, nicht am Wochenende. In einem Haus hat der Wachschutz sein Quartier. Wir unterhalten uns freundlich. Rund 360 Menschen leben nun hier und die nächsten Häuser in der Anlage werden gerade fertig saniert für Neuzugänge. „Gibt es auch Auseinandersetzungen, ist einmal etwas passiert?“ Die Antwort des Wachmannes: Nein, es ist sehr friedlich hier. Kein Lagerkoller oder Massenprügelei. Die Polizei fährt ihre Streife ab und zu. Ein kleiner Transporter hält im Innenhof. Der Laderaum ist voll mit Lebensmitteln und Getränken. Die Bewohner können sich etwas aussuchen. Neugierig begleiten mich zwei Mädchen auf dem Weg. Ich frage, ob sie in die Schule gehen. Ein kurzes „Yes“ kommt als Antwort. Ich denke mir, bei den Kinder wird es schnell gehen mit der Sprache, aber bei den Erwachsenen stelle ich mir das mit der Sprache schon schwieriger vor. Und ist doch die Sprache der Schüssel für Alles: Integration, Arbeit, Einkommen.

 

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Die Mädchen setzen sich auf die Treppen vor dem Haus, malen hübsche bunte Bilder, Bäume und Pferde und Gesichter. Schön. Ein Mädchen pflückt einen kleinen Blumenstrauch aus gelben Forsythienzweigen. Ansonsten gibt es hier nicht viele Blumen. Zumindest sehe ich keine. Die Jungs jagen und balgen sich. Zwei Jugendliche, Deutsche, sitzen auf Gartenstühlen vor dem Haus. Wir begrüßen uns freundlich. Was macht ihr hier so? Der junge Mann wohnt hier in der Siedlung und das Mädchen ist zu Besuch gekommen. Beide sind hier in der Russen-Siedlung aufgewachsen. Und beide sind 18 Jahre alt. „Wie sich alles verändert hat… das hätten wir als Kinder nicht gedurft“ bemerkt die junge Frau! Sie lebt mittlerweile in der Stadt und macht eine Ausbildung. Auch wenn jetzt hier ganz andere Menschen wohnen als Früher, kommt sie gerne hierher. Das ist schon noch irgendwie ihre Heimat, so viele Geschichten, an die sie gerne denkt, als sie selber als Kind mit ihren Freunden durch den Wald gezogen ist. Alle paar Minuten kommt ein Kind angelaufen oder auf dem Fahrrad vorüber geradelt und winkt oder grüßt mit einem „Guten Tag“ oder „Hallo“. Kleines, großes Theater vor der eigenen Haustür. Der junge Mann: „Ich bleibe hier wohnen, mir gefällt es hier! Auch wenn es ab und zu mal ein bisschen nervt,“ fügt er hinzu.

 

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Ich verabschiede mich erst einmal. Nun habe ich schon ein paar Portraits machen können. Eine afghanischen Gruppe winkt mir zu und ich werde zum Tee eingeladen. Picknick, Tee und Musik. Und lustige Musik dudelt ein bisschen aus dem kleinen Walkman-Lautsprecher vor sich hin. Alle amüsieren sich königlich über mein altes Nokia-Telefon und können es gar nicht fassen, dass es so etwas noch gibt. Ich sage, dass ich es nur zum Telefonieren brauche, das reicht mir. „Vielen Dank für den Tee, Good-Bye.“

 

In einer Wohnung war ich nicht. Sicherlich hätte ich auch dort einen Blick hereinwerfen können, aber mein Vorstellungsvermögen reicht aus, mir Wohnungen ohne nennenswerte eigene Gegenstände auszumalen. Es würde mir auch allzu aufdringlich erscheinen, in die Privatsphäre so unvermittelt einzuschneien.

Zwei-Zimmer-Wohnungen. Eine Familie pro Wohnung oder Männerbelegung, zwei Mann pro Zimmer. Wieviel Quadratmeter weiß ich nicht, aber ein Luxus-Leben sieht anders aus, soviel steht fest.

Das kleine Mädchen ist so stolz auf ihr Fahrrad. Sie fährt immer wieder an mir vorbei. Acht Jahre ist sie alt. Ich frage sie, was ihr größter Wunsch ist. Der Vater übersetzt aus dem Arabischen ins Englische und lächelt: „Ich wünsche mir, dass ich in den Weltraum fliege, zum Mond und zu den Sternen!“ Ein kleiner Junge aus dem Iran hat etwas weltlichere Wünsche: Er wünscht sich am allermeisten eine Pistole und ein Schießgewehr. Ziemlich normal für einen fünfjährigen Knirps. Ziemlich normal überhaupt, was die Menschen für Wünsche und Hoffnungen haben. „Meine Kinder sollen es besser haben als ich es hatte.“ Einige Männer sehen doch recht niedergeschlagen, in sich versunken aus. Da sieht man, dass es ihnen nicht gut geht und dass das Warten an die Nerven geht. Ein Mann ruft mir zu: „Ich brauche eine Arbeit! irgendwas, ich mache alles, ich kann Fliesen legen, ich kann fahren, was auch immer.“ Gedulden wir er sich noch müssen.

Was soll ich sagen?

Ein anderer zeigt mir auf seinem Telefon Fotos von seiner Heimat, von seinem großen Haus. Sieht nicht gerade klein aus, bemerke ich. Wer jetzt wohl darin zuhause ist?

Eine deutsche Familie hat heute ihren letzten Tag hier in der Siedlung. Die junge Frau auf dem Balkon unterhält sich mit einer Nachbarin auf der Wiese. Abschied. Kurz klinke ich mich ein und erkundige mich, wo es hingeht. „Wir ziehen in die Stadt!“ „Ja, super!“ sage ich. Da kommt die kleine Tochter angesprungen und kann es auch kaum erwarten, ihr neues Zimmer zu beziehen. Wie es so war, die Zeit hier mit den Flüchtlingen, möchte ich gerne wissen. „War schon alles friedlich hier, aber natürlich ist das plötzlich dann doch alles etwas anders.“ Von jungen, aufdringlichen Männern ist sie immer wieder angesprochen worden, ob sie nicht mit auf das Zimmer kommen möchte. „Ich bin robust, aber mit der Zeit nervt das doch gewaltig. Das hier ist dann irgendwie doch nicht mehr so meine Welt. Außerdem ist die neue Stadtwohnung schöner und größer. Da verändern wir uns gerne.“ Und wie Recht sie hat. In Deutschland hat sich einiges verändert. Und es wird sich weiterhin verändern, mit oder ohne dem guten Willen einer deutschen oder europäischen Politik.

 

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Seit Stunden fällt mir ein sehr stolz aussehender junger Mann auf, der immer wieder auf seinem Fahrrad ein paar Runden dreht. Wir grüßen uns, als ich am Parkplatz an meinem Auto bin. Der junge Mann kommt aus Tschetschenien. Natürlich spricht er Russisch. Gut, dass ich eine russische Freundin habe, die kurz am Telefon mit Übersetzungen hilft. Seit sechs Monaten ist er in Deutschland, mit seiner Frau, mit seinen Kindern. Er spricht ein bisschen Deutsch. Aber die meiste Zeit verstehen wir uns beide nicht so richtig, egal, wir lächeln uns an. Er sieht so aus, als ob er gerne einmal wieder etwas anderes fahren möchte, als seine Drahtesel. Ich biete ihm an, mit meinem Auto um den Block zu fahren, er bietet mir an, mit seinem Rennrad eine Runde zu kurven. Staunend drehen sich die Köpfe der tschetschenischen Frauen um, die mit ihren Kindern etwas abseits in einer Gruppe stehen und noch die Abendsonne genießen, als der Mann mit dem Wagen vorfährt. Ich erfahre nichts über seine Gründe, wieso er seine Heimat verlassen hat, vielleicht hat es einen religiösen Hintergrund, er ist Moslem. Jeder hier in dieser Siedlung hat seine Gründe gehabt. Ist nur die Frage, ob die Gründe auch von den deutschen Behörden anerkannt werden. Aber in dieser Zeit gibt es nichts Großes zu tun, als mit dem Rad in die vier Kilometer entfernte Stadt zu fahren und einzukaufen. Das ist die totale Entmündigung, denke ich. Wenigstens sind die Kinder im Kindergarten oder in der Schule.

 

 

Auf dem Bolzplatz spielen die Männer nun Fussball. Zwei Gruppen: Die eine Gruppe aus Afrika und die andere Gruppe aus dem Mittleren Osten und Asien, wie ich feststelle. Kinder schauen zu, hangeln sich an den Toren hin und her, Zuschauer feuern ihre Gruppen an. Alles ganz normal. Einer aus der Gruppe erzählt mir noch, dass morgen der Wagen kommt, dann gibt es wieder Geld. Es ist Monatsanfang. Aber da werde ich nicht mehr dabei sein. Ich kann mir das Bild mit den Menschen, die im Betreuungsbüro Schlange stehen, um ihr Geld in Empfang zu nehmen, bildlich vorstellen. Ich mache mich auf den Heimweg. Das war mein Tag in der Siedlung, abseits der Stadt. Irgendwo in Deutschland, irgendwo im Wald.

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